Der Vergabesenat des OLG Koblenz legt § 3 Abs. 1 LTTG dem EuGH zur Vorabentscheidung vor -
Vergabespezifischer Mindestlohn erneut vor dem EuGH / OLG Koblenz v. 19.02.2014 - 1 Verg 8/13
§ 3 Abs. 1 LTTG lautet:
„Soweit nicht nach § 4 Tariftreue gefordert werden kann, dürfen öffentliche Aufträge nur an Unternehmen vergeben werden, die sich bei Angebotsabgabe schriftlich verpflichten, ihren Beschäftigten bei der Ausführung der Leistung ein Entgelt von mindestens 8,50 Euro (brutto) pro Stunde zu zahlen (Mindestentgelt) und Änderungen des Mindestentgelts aufgrund Rechtsverordnung der Landesregierung nach Absatz 2 während der Ausführungslaufzeit gegenüber den Beschäftigten nachzuvollziehen. Satz 1 gilt nicht für die Leistungserbringung durch Auszubildende. Fehlt die Mindestentgelterklärung bei Angebotsabgabe und wird sie auch nach Aufforderung nicht vorgelegt, so ist das Angebot von der Wertung auszuschließen. Hat die Servicestelle nach § 4 Abs. 5 Muster zur Abgabe von Mindestentgelterklärungen öffentlich bekannt gemacht, können diese verwendet werden.“
Der Vergabesenat hat erhebliche Bedenken gegen die Vereinbarkeit des § 3 Abs. 1 LTTG mit Unionsrecht. Daher setzte er das Nachprüfungsverfahren aus und legte dem EuGH unter anderem die Frage vor, ob Art. 56 Abs. 1 des AEUV in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 der Entsenderichtlinie dahingehend auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die einem öffentlichen Auftraggeber zwingend vorschreibt, nur Unternehmen zu beauftragen, die und deren Nachunternehmer sich bei der Angebotsabgabe schriftlich verpflichten, ihren mit der Auftragsausführung befassten Mitarbeitern einen nur für öffentliche, nicht aber private Aufträge staatlich festgelegten Mindestlohn zu zahlen, wenn es weder einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn noch einen die potentiellen Auftragnehmer und eventuelle Nachunternehmer bindenden allgemeinverbindlichen Tarifvertrag gibt.
Nach dem OLG Koblenz beinhaltet § 3 Abs. 1 LTTG eine zusätzliche (soziale) Ausführungsbedingung, die gemäß Art. 26 der Richtlinie 2004/18/EG nur zulässig sei, wenn sie nicht im Widerspruch zum sonstigen Unionsrecht steht.
Eine nationale Regelung über ein Mindestentgelt stellt nach dem Senat eine Behinderung des Marktzugangs für Wirtschaftsteilnehmer aus anderen EU-Staaten dar. Potentiellen Leistungserbringern, die in einem Mitgliedstaat niedergelassen sind, in dem das allgemeine Lohnniveau oder die Mindestlohnsätze niedriger sind als im Inland, werde eine zusätzliche wirtschaftliche Belastung auferlegt, die geeignet sei, die Erbringung ihrer Dienstleistungen in Deutschland zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. Dies sei grundsätzlich nicht mit Art. 56 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zu vereinbaren.
Allerdings sei es den Mitgliedsstaaten nicht generell untersagt, eine nationale arbeitsrechtliche Regelung auch auf Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedsstaaten zu erstrecken, soweit diese im räumlichen Geltungsbereich der nationalen Regelung tätig sind. Den unionsrechtlichen Rahmen dafür bilde die Entsenderichtlinie. Art. 3 Abs. 1 der Entsenderichtlinie lasse es zu, dass Mitgliedsstaaten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die in ihren Rechtsvorschriften oder allgemeinverbindlichen Tarifverträgen geregelt sind, auch auf Arbeitnehmer ausdehnen, die – sei es auch nur vorübergehend – in ihrem Hoheitsgebiet tätig sind, selbst wenn ihr Arbeitgeber in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist.
Damit stelle sich die Frage, ob § 3 Abs. 1 LTTG eine Rechts- oder Verwaltungsvorschrift im Sinne des Art. 3 Abs. 1 der Entsenderichtlinie darstelle. Der Senat neigt zu der Ansicht, dass dies nicht der Fall ist.
Zum einen handele es sich bei § 3 Abs. 1 LTTG nicht um eine Rechtsvorschrift, die Arbeitnehmern verbindlich ein Mindestmaß an Schutz durch die Festlegung von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewähre, da sich die Vorschrift nur an öffentliche Auftraggeber richte.
Zum anderen betreffe § 3 Abs. 1 LTTG den Wettbewerbsfaktor Lohnkosten nur beim Wettbewerb um öffentliche Aufträge, ohne aber einen im Inland allgemein geltenden arbeitsrechtlichen Mindeststandard zu setzen. Der gesamte Sektor der Auftragserteilung durch natürliche oder juristische Personen, die keine öffentlichen Auftraggeber im Sinne des Art. 1 Abs. 9 der Richtlinie 2004/18/EG sind, werde von der Regelung überhaupt nicht erfasst. Eine soziale Rechtfertigung für diese Ungleichbehandlung gäbe es nicht, weil ein im Rahmen eines privaten Auftrags tätiger Arbeitnehmer nicht weniger schutzwürdig ist als jemand, der zur Ausführung eines öffentlichen Auftrags eingesetzt wird.
Allerdings sei der Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 der Entsenderichtlinie insoweit nicht eindeutig, sondern bedürfe der Auslegung. Da aber ein nationales Gericht nicht zur Auslegung von Unionsrecht berufen sei, werde dem EuGH die Sache zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Des Weiteren legte der Vergabesenat (allerdings nur subsidiär) die interessante Frage vor, ob das Unionsrecht auf dem Gebiet der Vergabe öffentlicher Aufträge, insbesondere Art. 26 der Richtlinie 2004/18/EG, dahingehend auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung wie § 3 Abs. 1 Satz 3 LTTG entgegensteht, die den zwingenden Ausschluss eines Angebots für den Fall vorsieht, dass sich ein Wirtschaftsteilnehmer nicht bereits bei Angebotsabgabe in einer gesonderten Erklärung zu einem Tun verpflichtet, zu dem er im Falle der Beauftragung auch ohne Abgabe dieser Erklärung vertraglich verpflichtet wäre.
Art. 26 Satz 1 der Richtlinie 2004/18/EG wende sich nur an den Auftraggeber. Er berechtige ihn, zusätzliche Ausführungsbedingungen aufzustellen und verpflichte ihn, diese den am Auftrag interessierten Wirtschaftsteilnehmern spätestens mit den Verdingungsunterlagen (Vergabeunterlagen) mitzuteilen. Weitergehende Regelungen fehlten. Insbesondere sei in der Richtlinie 2004/18/EG in diesem Zusammenhang keine Rede von einem Ausschlussgrund. Das sei konsequent, weil es keinen weitergehenden vergaberechtlichen Regelungsbedarf gibt. Bei den zusätzlichen Ausführungsbedingungen handele es sich weder um Eignungs- noch um Zuschlagskriterien. Vielmehr werde von dem Ausschreibungsgewinner ein Tun oder Unterlassen verlangt, das zur Befriedigung des Beschaffungsbedarfs des Auftraggebers nicht erforderlich ist, aber mit der Auftragsausführung einhergehen soll. Es gehe somit um Vertragselemente (Vertragsbedingungen), deren Erfüllung der Auftraggeber erst nach Zuschlagserteilung – also erst nach Beendigung des Vergabeverfahrens – verlangen kann. Da zu einen früheren Zeitpunkt völlig offen ist, ob und wie der Auftragnehmer seinen vertraglichen Pflichten nachkommt, bestehe auch keine Möglichkeit, deren Erfüllung bei der Entscheidung über die Auftragsvergabe zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund hat der Vergabesenat erhebliche Zweifel, ob es das Unionsrecht überhaupt zulässt, dass ein nationaler Gesetzgeber Art. 26 der Richtlinie 2004/18/EG, wie in § 3 Abs. 1 LTTG geschehen, um eine mit einer Ausschlussandrohung verbundene Verpflichtung der Bieter zur Abgabe einer bestimmten Erklärung erweitert.
Die Bedenken des Vergabesenats werden noch durch den Umstand verstärkt, dass die nach § 3 Abs. 1 LTTG geforderte Mindestlohnerklärungen nur deklaratorische Bedeutung habe.
Gemäß § 97 Abs. 4 Satz 2 GWB seien zusätzliche Ausführungsbedingungen in die Leistungsbeschreibung (als wesentlicher Bestandteil der Vergabeunterlagen) aufzunehmen. Habe der Auftraggeber derartige besondere Vertragsbedingungen ordnungsgemäß in die Vergabeunterlagen aufgenommen, werden sie von jedem Wirtschaftsteilnehmer, der ein unbedingtes Angebot abgibt, als verbindlich anerkannt. Mit dem Zuschlag werden sie verbindliche Bestandteile des abgeschlossenen Vertrages, auf deren Erfüllung der Auftraggeber einen Anspruch hat. Erklärt ein Wirtschaftsteilnehmer hingegen, er lehne es ab, sich auf bestimmte Vertragsbedingungen einzulassen, fehle es an einem ausschreibungskonformen zuschlagsfähigen Angebot. Daraus folge, dass die gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 LTTG zu fordernde Mindestentgelterklärung zum einen unter der aufschiebenden Bedingung des Zuschlags steht und zum anderen im Grunde genommen überflüssig sei. Der Ausschreibungsgewinner wird mit dem Zuschlag Vertragspartner und müsse allein deshalb künftig alle ihn treffenden vertraglichen Verpflichtungen einschließlich der zusätzlichen Ausführungsbedingungen erfüllen. Dass gleichzeitig auch die ihm abverlangte Mindestentgelterklärung durch Bedingungseintritt zum Tragen kommt, sei rechtlich irrelevant, denn der Vertrag käme auch ohne diese Erklärung mit einem ihr entsprechenden Inhalt zustande. Nichtsdestotrotz werde die Nichtvorlage mit einem Angebotsausschluss sanktioniert. Jeder Angebotsausschluss sei aber auch eine wettbewerbsbeschränkende Maßnahme, die nur dann mit den Grundprinzipien des Rechts der öffentlichen Auftragsvergabe zu vereinbaren ist, wenn es einen triftigen Grund dafür gibt.